M.E.L.I.N.A e.V.

interview - M.E.L.I.N.A Inzestkinder/Menschen aus VerGEWALTigung e.V. - DesignBlog

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Thema: Interview

Gefragt


"Die Wahrheit ist schmerzlich, aber heilsam"



Interview mit Ulrike M. Dierkes
im Literaturportal Büchereule



Büchereule: Letzte Woche waren Sie in Stern-TV und haben seitdem jeden Tag mehrere Nachrichten auf Ihrer Homepage. Haben Sie mit solch einem Medieninteresse nach der Veröffentlichung Ihrer Biographie „Schwestermutter“ gerechnet?


Dierkes: Die Resonanz auf die STERN TV-Sendung war in der Tat überwältigend positiv, noch heute kommen täglich Reaktionen. Anrufe, Anfragen, e-Mails und Zuschriften mit begeisterten Rückmeldungen. Seit ich mit dem Thema "Inzest und Inzestkinder" vor zehn Jahren begann, arbeite ich regelmäßig mit Medien und bin es folglich gewohnt, dass nach jedem Artikel oder Beitrag Reaktionen kommen, aber ich gebe zu: die STERN TV Sendung hat meine bisherigen Erfahrungen übertroffen.


Büchereule: Sie haben ja auch schon vorher Bücher über Inzestkinder geschrieben. („Melinas Magie“ und „Meine Schwester ist meine Mutter“) In wie weit unterscheidet sich Ihr neues Buch von den bisher schon veröffentlichten?


Dierkes: Mein erstes Buch "Melina's Magie" ist ein Roman, mit dem ich mich auf belletristische Weise dem Thema vorsichtig annäherte. Falls Angriffe gekommen wären, hätte ich sagen können: "Es ist nur ein Roman". Danach wurde ich mutiger, schrieb das Sachbuch "Meine Schwester ist meine Mutter - Inzestkinder im Schatten der Gesellschaft". Darin hinterfrage ich die familiäre gesellschaftliche Stellung von Inzestkindern als Minderheit im Schatten der Gesellschaft und die Rolle von Instanzen wie Justiz, Kirche und Medien. Mein drittes Buch "Schwestermutter" ist meine Autobiographie, in der ich rückblickend auf Jahrzehnte die Auswirkungen meiner Kindheit, das daraus folgende Engagement und meine Erlebnisse in dieser Gesellschaft schildere.


Büchereule: Wann und wie haben Sie denn erfahren, dass Sie ein Inzestkind sind?


Dierkes: Da ich "Produkt" dieses Vater-Tochter-Inzests bin, also der lebendige Beweis des Verbrechens, wuchs ich vom ersten Tag meines Lebens als Inzestkind auf. Jeder kannte meine Entstehungsgeschichte. Es wurde getuschelt, aber nie offen mit mir darüber gesprochen. So wuchs ich einer Atmosphäre des Wissens und Schweigens auf, in der Isolation eines tabuisierten Verbrechens. Ich erfasste intuitiv, dass etwas nicht stimmte. Erst im Alter von zehn Jahren, kurz vor Rückkehr meines Vaters aus dem Gefängnis, erklärte man mir, dass ich als Folge seiner Vergewaltigung seiner eigenen Tochter entstanden bin.


Büchereule: Was hat das in Ihnen ausgelöst? Wie sind Sie damit umgegangen?


Dierkes: Ich war entsetzt, schockiert und verzweifelt. Ich wollte nicht das Kind eines Verbrechens an einem Kind sein, wodurch eine Familie, Kindheiten und Seelen zerstört wurden. Mit dieser Hypothek kam ich lange Zeit nicht zurecht. Die Bilder, die ein solches Verbrechen erzeugt, steigerten sich in Ekel. Je mehr Details ich erfuhr, umso schlimmer wurde es. Die Vorstellung, dass ein Mann, ein Vater sein eigenes Kind ab dem 7. Lebensjahr vergewaltigt, zum Geschlechtsverkehr zwingt, es würgt, wenn es sich zu wehren versucht, steigerten sich ins Unerträgliche bis zu einem Selbstmordversuch. Um überhaupt bestehen zu können, musste ich das Unfassbare verdrängen und mich zeitweise der Gedankenwelt meines Vaters/Täters anschliessen. Nur seine Philosophie, es sei schön, dass es mich gebe, nur die intolerante Gesellschaft mache alles so schlimm, machten das Geschehene für mich einigermaßen erträglich. Erst nach seinem Tod, ich war schon 30 Jahre alt, begann ich eine Psychoanalyse und wagte es, mich der entsetzlichen Wahrheit, der Auswirkungen und der damit verbundenen Realität zu stellen. Ich erkannte, dass ich an dem Geschehenen keine Schuld trage und folglich keine Schuldgefühle haben muss. Ich lernte, dass ich das Recht habe, da zu sein und mich selbst anzunehmen, meine Entstehungsgeschichte zu akzeptieren, mich selber kennen zu lernen und Eigenliebe zu entwickeln. Ich erkannte, dass ich Recht auf Glück habe, aber selber dafür sorgen muss. Dass ich nicht erwarten kann, dass jemand kommt, der mich glücklich macht, sondern dass ich selber den Anfang machen muss.


Büchereule: In wie fern hat Ihre Herkunft (ihre Vergangenheit) Sie geprägt?


Dierkes: Ich habe das Dorf und den Familienverband sehr früh verlassen, weil mir dort keine Chancen gegeben worden wären, meine Begabungen und Talente zu entfalten. Seither arbeite ich sehr viel, als müsse ich täglich beweisen, dass ich trotz eines solchen Vaters nicht zum Versagen und zum Scheitern verurteilt bin. Ablehnung, Ächtung und Ausgrenzung, die ich als Kind erfahren habe, haben Narben der Gewalt hinterlassen. Es klingt absurd, aber immer, wenn es schön wird, schmerzt die Erinnerung an die Kindheit. An Ablehnung, Ausgrenzung, Entrechtung und Liebesentzug. Die Vergangenheit schmerzt. Aber wie heisst es so schön: Die Wahrheit ist schmerzlich, aber heilsam!


Büchereule: Was sagt Ihre Familie zu der Veröffentlichung Ihrer Lebensgeschichte?


Dierkes: Aus der Familie meines Vaters kamen alle Reaktionen, die man sich denken kann. Kritische, vorwurfsvolle, positive Reaktionen und Morddrohungen. Meine Arbeit reisst alte Wunden auf und rührt am Schmerz der Erinnerung. Zur Familie des Vaters habe ich keinen Kontakt. Die Familie meines Mannes, mit dem ich seit 22 Jahren verheiratet bin, findet meine Arbeit völlig normal, da sie mich als Autorin/Journalistin kennengelernt hat. Meine eigene Familie ist stolz auf mich. Da sie durch meine Vergangenheit keine negativen Auswirkungen erfährt, findet sie es sehr gut, wie ich mit dem Erlebten umgehe und gleichzeitig anderen Betroffenen helfe. Meine Familie ist sehr stolz auf mich. In diese Generation dürfen wir alle unsere Hoffnung setzen! Unsere Kinder gehen selbstverständlich mit menschenrechtlichen Themen um. Sie werden es anders und besser machen, sofern man sie hierzu anleitet, davon bin ich überzeugt.


Büchereule: Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrer Mutter/Familie?


Dierkes: Ich habe keinen Kontakt, bin aber nicht verfeindet. Dieses Verbrechen hat unser naturgegebenes Mutter-Kind-Verhältnis zerstört. Ich musste aber leider erkennen, dass ich meinen Weg alleine gehen muss und nur für mich selber Therapie machen kann. Jedes Opfer muss für sich selbst einen eigenen Heilungsweg finden und gehen. Mutterliebe lässt sich nicht erzwingen. Man kann nur einander gewinnen. Das müssen beide wollen, den jeweiligen Weg der oder des Anderen akzeptieren.


Büchereule: Trotz allem sind Sie ja (inzwischen) ein lebensbejahender Mensch. Was machen Sie am liebsten in Ihrer Freizeit?


Dierkes: Durch Laufen, Schwimmen und Kraftsport halte ich Bodenhaftung und Kontakt zu mir selbst. Die Begegnung mit den Jahreszeiten in freier Natur sind mir sehr wichtig. Gleich danach die Begegnung mit positiven Menschen. Ich mag es, im Kreise lieber Menschen wie meiner Familie zusammen zu sitzen, gut zu essen und zu diskutieren. Auch interessieren mich Meinungen zu anderen Themen. In stillen Stunden lese ich, höre Musik, führe Tagebuch, meditiere.


Büchereule: Neben den schon erwähnten Romanen schreiben Sie hauptsächlich Gedichte. Ist das für Sie eine Form der Verarbeitung der Vergangenheit?


Dierkes: Lange bevor ich meine Bücher schrieb, war ich Vollblutlyrikerin. Damals habe ich dabei nicht an eine Form der Verarbeitung oder Vergangenheitsbewältigung gedacht. Lese ich aber heute rückblickend meine Gedichte, wird mir bewusst, wieviel Befindlichkeit und Schmerz in und zwischen den Zeilen enthalten ist. Inzwischen ist Lyrik für mich mehr eine kurze Form der Intensität. Um an einem Buch zu arbeiten, brauche ich Ruhe. Lyrik kann überall sogar auf einem Bierdeckel in einem Straßencafé entstehen, wenn ich gerade einen Stift zu Hand habe. Gedichte sind kleine Kunstwerke, Aussagen, komplexe Bilder und Eindrücke konzentriert auf den Punkt zu bringen und wiederzugeben. Momentaufnahmen. Stimmungen.


Büchereule: Können Sie sich vorstellen, auch in anderen Literturgenren (Historische Romane, Krimis, Liebesromane, ....) tätig zu werden?


Dierkes: Auf jeden Fall. Ich gehe nicht davon aus, dass ich ein weiteres Buch zum Thema Inzest schreibe. Es sei denn, ein Verlag würde mich darum bitten. Mein viertes Buch, das ich begonnen habe, ist ein Thriller zu einem aktuell brisanten Thema, das auf dokumentierten Geschehnissen basiert. Das Leben schreibt die verrücktesten Geschichten. Die Geschichte selbst gibt die Form vor. Ob es sich um einen Krimi, einen historischen Roman oder einen Liebesroman handelt. In dem Moment, in dem mich eine Geschichte menschlich interessiert, kann ich mir vorstellen, diese auch anderen Menschen auf interessante Weise nahe zu bringen und sie zu diesem Zweck spannend niederzuschreiben.


Büchereule: Was für Projekte kommen in nächster Zeit auf Sie zu?


Dierkes: Auf jeden Fall eine grössere TV-Dokumentation, mit der ich die Auswirkungen von Inzest auf Körper und Leben von anderen Inzestkindern aufzeigen werde. Inzestschäden. Damit es nicht länger heisst, meine Geschichte sei ja nur ein Einzelfall, inzestuöse Gewalt sei ja gar nicht so schlimm, da ich körperlich unversehrt daraus geboren wurde. Danach liegt mir ein neues Buchprojekt sehr am Herzen. Darin geht es um eine Form von Gewalt, der hierzulande erst allmählich auch juristische Aufmerksamkeit zuteil wird, in der es um eine Frau als Täterin geht. Und demzufolge um ein männliches Gewaltopfer.


Büchereule: Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? Welche Träume und Wünsche haben Sie?


Dierkes: Erstens hoffe ich, dass das Urteil des Bundessozialgerichts Kassel zugunsten Inzestgeborener endlich in die Amtsstuben vordringt und sich bis in die Versorgungsämter rumspricht, auch dort endlich umgesetzt wird. Zweitens, dass die Bundesrepublik endlich mein menschenrechtliches Engagement unterstützt. Und ich würde gerne nachholen, was ich für mich selber bisher leider vernachlässigt habe. Immer wenn es Herbst wird und ich das Rilke-Gedicht höre: "Wer jetzt kein Haus hat, wird sich keins mehr bauen...", wird mir bewusst, dass ich über mein Engagement meine eigenen materiellen Möglichkeiten überstrapaziert, mich selber vergessen habe. Es fehlt an allem. Schon lange träume ich von regelmässigen Begegnungswochenenden, an denen sich die Menschen, die zu mir kommen, wohlfühlen. Es soll an nichts fehlen. Ich halte sehr viel von der Wahlverwandtschaft als Ersatz zerstörter Familienverbände, damit niemand allein sein muss, der dies nicht will.


Büchereule: Wir wünschen Ihnen Viel Erfolg weiterhin und alles Gute für die Erfüllung Ihrer Träume. Vielen Dank für das Gespräch!





  • Germany | 13.11.2005

Trial Raises Questions About Germany's Incest Law



Following a recent high-profile incest trial, legal experts have called for a review of Germany's incest law, saying that consensual sex between siblings should no longer be punishable.




For his incestuous relationship with his sister, a judge in the eastern German town of Leipzig sentenced Patrick S. to two and a half years in prison this week. The 28-year-old man grew up with foster parents and didn't meet his 21-year-old biological sister, Susan K. until 2000. The judge placed Susan under the supervision of social services for one year.



Since they met, the siblings have had four children. After the first child, Patrick received a suspended sentence. He began serving a 10-month prison sentence in connection with the second and third child shortly after fathering the fourth.



Punishing sex, not reproduction



While it was procreation that led to the trials, Patrick was actually sentenced for sleeping with his sister rather than fathering the children.



That's because Germany's incest law only punishes heterosexual intercourse between close relatives such as siblings or parents and their children. That means that infertile siblings would face prosecution while a sister who gets inseminated artificially with the sperm of her brother would not have to stand trial.



Saying that the law is based on outdated moral concepts, legal experts have said that Germany should follow the example of many other countries, such as France, Belgium, the Netherlands, Luxembourg, Portugal, Turkey, Japan, Argentina or Brazil, where incest is no longer punishable.




"The question is whether criminal law should be used to safeguard cultural, purely moral beliefs of society," Joachim Renzkikowski, an expert for sexual criminal law at Halle University, told Deutschlandradio. "I would say no."




Renzkikowski added that the incest law was the last of its kind as others, such as a law against adultery and another penalizing homosexual sex were taken off the books decades ago.


Parliamentary review



Others, who are in a position to push for change, said they would seriously consider a review of the law.



"I think we should calmly check whether it's still appropriate," said Joachim Stünker, a former judge and the Social Democratic Party's legal affairs spokesperson in parliament, adding that he will suggest a review in the legislature's legal affairs committee.



But Jörg van Essen, Stünker's counterpart for the opposition Free Democratic Party, said he thought the law should remain in place.



"I believe that the state should hold off when two people love each other, but we have a responsibility towards the children," said Essen, a former prosecutor.



He added that the law should serve as a deterrent and help prevent children from being born with disabilities that result from genetic defects.



Ethics vs. genetics



The question of whether children from an incestuous relationship stand a higher chance of being disabled is a contentious issue among medical experts.



While some say that such a connection cannot be made, others cite studies showing that 50 percent of children parented by siblings or as a result of sex between parents and their children, are at risk.


"The fact that we deal with people who are disabled as a result of incest is proof enough," said Ulrike Dierkes, who runs a support organization for children born as a result of incestuous sex.



Dierkes, who was born after her father had sex with her sister but is not disabled, said she would actually back tightening the law to cover the unlikely case of artificial insemination.



"I'm not interested in morality," she said, adding that she didn't think consenting incestuous relationships should be punished as long as they don't result in children being born.



Dierkes said she was happy with the Leipzig court's decision to send Patrick to prison.



Patrick's lawyers on the other hand have said they will appeal to Germany's highest court to review the constitutionality of the law.



Mathis Winkler

Nickname 04.01.2006, 19.27 | PL

Kontakt:

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    Kategorie "Soziales Leben"